Cover der Serie „Schlosshauptmann“, Folge 1 „Der Fall Schlosshauptmann“ – grüne Magnum im kühlen Schlossgang mit Satinband

Es roch nach feuchtem Stein und Pfefferl im Keller, als ich kurz nach halb neun (20:35) die letzte Kontrolle machte. In einer Mauernische stand sie wie eine kleine Trophäe: die Magnum „Schlosshauptmann – weiße Cuvée mit Schwerpunkt Grüner Veltliner“. Um 21:00 wollten wir sie beim Schlosshauptmann-Abend öffnen, ein kleines Ereignis für Stammgäste, Winzer und Neugierige. Ich löschte das Licht, schloss ab, steckte den Schlüssel ein – und hörte oben im Hof schon die ersten Schritte und Stimmen.

Um 20:47 war die Flasche weg.

Kein Glas, kein Deckel, kein abgerissener Sicherungsring. Nur ein dünner heller Staubabdruck, wo die Magnum gestanden hatte, und ein zerknicktes Satinband mit dem Aufdruck: „Tradition. Qualität. Leidenschaft.“ Ich stand da wie ein Depp, das Band in der Hand, und dachte: Das wird ein Abend.

„Rainer, alles gut?“ Lukas, der Winzer, schaute um die Ecke. Sein Blick wanderte vom leeren Podest zu mir. „Sag mir nicht…“

„Sie ist weg.“

Fünf Leute waren beim Aufbau unten gewesen: Lukas; Nino, mein Lehrling; Frau M., die Bloggerin, die später live streamen wollte; der Hausmeister Sepp; und ich. Schlüssel hatte nur ich. Zumindest glaubte ich das.

Ich rief Inspektor Pröll aus dem Posten. Er kam ohne Blaulicht, aber mit einem Notizblock, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. „Ein kleiner Kriminalfall“, murmelte er fast zufrieden und kniete sich an die Nische. „Wer hat hier Staub gewischt?“

„Niemand. Das ist Naturpatina“, sagte ich.

„Hübsche Patina. Was ist das?“ Er zeigte auf feine, matte Schlieren am Boden.

„Kreide vom Kellergang. Wenn man mit dem Hubwagen fährt, schleift’s weiße Spuren.“

„Und die führen…?“ Pröll folgte den Schlieren mit dem Blick. Sie liefen aus der Nische, über den Gang, bis zur Abzweigung zum alten Presshaus – und verloren sich dort in ein Gewirr aus Fußabdrücken und Schatten.

Ich ging im Kopf die Möglichkeiten durch. Lukas würde die Magnum nicht klauen. Nino war flink, aber nicht dumm. Frau M. brauchte Bilder, keine Beweisstücke. Und Sepp, der alte Hausmeister, trug die Taschenlampe wie einen Taktstock und pfiff immer leise beim Gehen. „Vielleicht ein Scherz“, sagte ich.

„Ein Scherz mit 1,5 Litern?“, fragte Pröll. „Dann lachen wir bald weniger.“

Er machte Fotos vom Band, tippte an die Nische, schnupperte sogar. „Pfeffrig. Frisch. Und da—“ Er hob etwas zwischen zwei Fingern: ein winziger Splitter grünlichen Glases, kaum größer als ein Pfefferkorn.

„Die Magnum ist grün“, sagte ich. „Alle unsere Schlosshauptmann-Flaschen sind grün.“

„Und Ihre anderen?“

„Weinviertel DAC Hofgärten auch. Aber dünneres Glas.“

Pröll nickte. „Wir sammeln mal die üblichen Verdächtigen ein. Wo sind sie?“

Oben im Hof blinkten Lichterketten, Gläser klirrten, und irgendwo spielte jemand „Wien, Wien, nur du allein“ in einer Version, die die Noten nur vage kannte. Ich trommelte die Runde zusammen:

Lukas, noch in der Kellerschürze.
Nino, mit zu sauberem Hoodie.
Frau M., die schon zwei Storys online hatte.
Sepp, der pfiff.

„Kurze Frage: Hat irgendwer die Magnum bewegt?“ Niemand meldete sich. „Dann zweite Frage: Wer war als Letzter unten?“ Alle sahen sich an. Sepp zuckte mit den Schultern, Frau M. hob die Hand.

„Ich war kurz im Keller, um den Empfang zu checken. Funkloch-Romantik! Ich hab die Flasche gesehen – wunderschönes Etikett – aber nicht angegriffen. Nur gefilmt.“

„Und Sie, Nino?“

„Ich hab nur die Gläser runtergebracht. Echt.“

„Lukas?“

„Ich war bei den Kisten. Die Weinviertel DAC Hofgärten-Lieferung kontrollieren.“ Er deutete auf drei stapelbare Kunststoffkisten neben dem Presshaus. „Da ist gestern was durcheinander geraten.“

Pröll kratzte sich am Kinn. „Zeigen Sie mir die Kisten.“

In der ersten: Weinviertel DAC Hofgärten, eisig kalt, die Verschlusskappen in einem leicht anderen Grün. In der zweiten: Gelber Muskateller, die sonnig-gelben Banderolen glänzten. In der dritten: leer – aber im Kunststoffgrund eine kreidige, ovale Spur, etwa so groß wie der Fuß einer Magnum.

„Hubwagen-Spuren bis hier“, sagte Pröll. „Leer. Was fehlt sonst?“

„Nichts“, sagte Lukas. „Nur… das hier.“ Er bückte sich und hob etwas auf: ein abgebrochener Sicherungsring (Tamper-Evident) eines Schraubverschlusses in tiefem Grün, innen feucht, außen trocken.

„Wer bricht den Sicherungsring eines Schraubverschlusses, bevor er eine Flasche bewegt?“, fragte Frau M.

„Wer die Flasche in eine Kiste mit enger Öffnung fädeln muss“, sagte Pröll. „Ohne zu schrammen.“

Ich spürte, wie mir plötzlich sehr warm wurde. „Wenn jemand die Magnum in eine Lukas-Kiste gestellt hat und die Kiste dann…“

„…ins Kühlrauml mitgenommen hat“, beendete Sepp den Satz, „dann steht’s jetzt hinten bei der Eismaschin und kriegt a Gänsehaut.“

Wir gingen in den Kühlraum. Es roch nach Metall und Zitrone. Zwischen zwei Kisten stand – nichts.

„Da ist sie nicht“, sagte Nino zu schnell.

Pröll blieb ruhig. „Sie haben eine Kamera, Rainer?“

„Die hängt beim Kellereingang. Aber Sepp hat sie heute Vormittag verschoben, weil sie immer in die Lichterkette geleuchtet hat.“

„Nur ein bisserl“, sagte Sepp. „Damit’s nicht flirrt.“

Das Bild zeigte jetzt eine perfekte, helle Lichterkette, romantisch, funkelnd – und keinen Keller.

„Super“, sagte ich.

„Dann bleiben uns noch Spuren und Motive“, sagte Pröll. „Motive: Geld? Geltung? Gag? Spuren: Kreide, ein abgerissener Sicherungsring, ein Glas-Splitter, Satinband mit Spruch. Und…“ Er bückte sich und zog unter einem Regalbrett ein zusammengefaltetes Papier hervor. Darauf stand in hastiger Schrift: „Nicht aufmachen! Über 26 Grad im Keller. Kühle Flasche!“ Darunter ein kleines Herz und ein Name, der mehr gezeichnet als geschrieben war.

„Das ist von dir, Frau M.?“ Ich hielt ihr das Zettelchen hin.

Sie errötete. „Ich… wollte helfen. Eure Anzeige für den Kühlthermostat ist rot. Ich hab die Magnum umgestellt. Einen kühleren Platz gesucht. Und dann…“ Sie nahm Luft. „…hab ich sie in den Schlossgang getragen. Hinter die dicke Holztür, wo’s am kühlsten ist. Ich hab das Band dran gebunden, damit niemand dran geht, und den Zettel… tja, der ist wohl runtergefallen.“

„In den Schlossgang“, wiederholte Sepp. „Hinter die Tür, die klemmt?“

„Die, die immer pfeift, wenn man sie aufmacht?“, fragte Nino.

„Die“, sagte Frau M.

Wir gingen in den Gang, der ins Herz des alten Gemäuers führte. Eine schwere Holztür mit Eisenbändern, an deren Spalt tatsächlich ein dünnes Pfeifen zog. Sepp stemmte sich dagegen – nichts. Pröll legte die Hand flach auf das Holz. „Spürt’s ihr das? Kühle Luft.“

Ich lief nach oben, holte die lange Hebestange, die wir für die Fässer verwenden, und wir drückten gemeinsam, bis die Tür mit einem trockenen Knacken nachgab. Dahinter lag ein schmaler Raum, kühl wie ein Brunnen. Auf einem flachen PODEST, schief wie ein Altar, stand die Magnum „Schlosshauptmann“, unversehrt, das Satinband um den Hals, perlendes Kondenswasser auf dem Glas wie feiner Nebel.

Niemand sagte etwas. Dann pfiff Sepp leise, diesmal eine andere Melodie.

Pröll machte sein Notizbuch zu. „Fall gelöst“, sagte er. „Tatmotiv: Sorge um die Temperatur. Tatwaffe: Hebelwirkung. Täterin: mit Herz. Empfehlung: Thermostat reparieren, Kamera wieder richtig hängen – und vielleicht ein Schild an die Tür: ‚Achtung, Schlossgang – nur für den Schlosshauptmann‘.“

Lukas atmete hörbar aus. „Und jetzt?“

Ich hob die Magnum vorsichtig an. Sie war schwer und still, wie eine gute Entscheidung. „Jetzt kühlen wir sie ordentlich. Und um neun öffnen wir sie – unter Aufsicht des Inspektors.“

„Ausnahmsweise“, sagte Pröll und steckte das Satinband in die Tasche. „Als Erinnerungsstück an einen Kriminalfall, der keiner sein wollte.“

Später, als die Gläser im Hof gefüllt wurden und das Pfefferl aus der Grüner-Veltliner-Cuvée in der Luft hing, hob ich mein Glas. „Auf den Schlosshauptmann“, sagte ich. „Auf diejenigen, die aufpassen, wenn keiner hinschaut.“

„Auf Tradition, Qualität, Leidenschaft“, ergänzte Lukas.

Nino prostete mit Apfelsaft. „Und auf Türscharniere, die endlich geölt werden.“

Frau M. filmte – diesmal ohne Funkloch. Inspektor Pröll nickte zufrieden und verschwand in der Menge, als wäre er immer schon Teil des Hofs gewesen.

Später blieb Pröll noch kurz im Hof stehen, drehte einen Schraubverschluss zwischen den Fingern. „Seltsam“, murmelte er, „die Prägung am Deckel passt nicht.“ Dann steckte er ihn ein.

Am nächsten Morgen brachte Sepp eine kleine Messingtafel an die schwere Holztür. Darauf stand: „Schlossgang – Zutritt nur mit Herz.“ Und unten, kaum sichtbar, eine winzige Gravur: S.H.

„Was ist das?“, fragte ich.

Sepp grinste. „Schlosshauptmann. Damit er weiß, dass wir’s ernst meinen.“


Fortsetzung folgt – So, 05.10.2025, 19:00.

Zum Schlosshauptmann

Weinvierterl